Ein Vortrag von und mit Dr. med. I. Linas am 10. Dezember 2021 in Saas-Fee
Stuhlinkontinenz ist kein Thema für Stigmatisierung
Das Thema Stuhlinkontinenz ist mit ebenso viel Peinlichkeiten und Stigmatisierungen wie Einschränkungen im Leben und Beratungsbedarf besetzt. In einem Vortrag am 10. Dezember 2021 in Zermatt widmet sich Dr. med. I. Linas ausführlich der Thematik „Stuhlinkontinenz – Lass und darüber reden. Dabei werden Leidenswege genauso dargestellt wie Anamnese, Diagnostik und Therapiemöglichkeiten. Wesentlicher Schwerpunkt im Vortrag ist, wie Betroffenen wirklich geholfen werden kann. Den ausführlichen Bericht zum Vortrag und den kompletten Videomitschnitt mit Fragen und Antworten gibt es hier.
In regelmässiger Folge veranstaltet die Helvetius Holding AG an unterschiedlichen Standorten Fachtagungen mit interessanten und vielfältigen Fachvorträgen. So beispielsweise in Arosa, Zermatt, Kreuzlingen und am 10. Dezember 2021 auch in Saas-Fee. Neben speziellen Fachthemen gibt es auch solche, die eher hinter vorgehaltener Hand diskutiert werden.
Die Helvetius Holding AG stellt auch schwierige medizinische Fachthemen in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Heute hier: Stuhlinkontinenz – Lass uns darüber reden!
Dr. med. I. Linas ist Gastroenterologe in der Gastroenterologischen Gruppenpraxis GGP in Bern.
In der Breite der Öffentlichkeit wird über das sensible Thema Stuhlinkontinenz selten geredet. Auch oder gerade deshalb wollen wir hier diese schwierige Thematik einmal näher beleuchtet. Folgende Punkte strukturieren den Vortrag:
- Stuhlinkontinenz – Was bedeutet das für den Arzt, für Betroffene und für die Gesellschaft?
- Wie kann jeder helfen?
- Wie kann der Arzt helfen?
Was bedeutet Stuhlinkontinenz für Ärzte? (Definition der Inkontinenz)
Die Stuhlinkontinenz ist der unkontrollierte wiederholte Abgang von Stuhlmaterial über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten hinweg.
Voraussetzung ist, dass die Patienten mindestens das vierte Lebensjahr überschritten haben. Die Sauberkeitserziehung ist also auch abgeschlossen. Beim Stuhlmaterial handelt es sich nicht um keinen reinen Schleimabgang. Es ist nicht eindeutig differenziert und eher von der Auswirkung auf die Lebensqualität abhängig, ob Schmierspuren beispielsweise in der Unterwäsche und ungewollte Windabgänge mit in den Bereich der Stuhlinkontinenz einbezogen werden.
Einteilung der Inkontinenz
Den Schweregrad der Stuhlinkontinenz unterscheiden wir grob nach der Parks-Klassifikation in drei Grade:
Grad I: Wind
Grad II: Dünnflüssiger Stuhl
Grad III: Geformter Stuhl
Weitere Einteilungen beispielsweise nach Wexner oder Vazey sind bekannt, aber wegen ihrer Komplexität eher weniger in Anwendung.
Darüber hinaus wird die Stuhlinkontinenz in drei Auslöser-Gruppen unterteilt:
– Stress-Inkontinenz (ungewollter Stuhlabgang beim Husten oder Niesen)
– Drang-Inkontinenz (schlechte Möglichkeiten, einen starken Stuhldrang zu beherrschen)
– Passive Inkontinenz (unbemerkter Abgang von Stuhlmaterial)
Um die Stuhlinkontinenz zu verstehen, muss man sich auch mit der Funktion der normalen Kontinenz befassen, also damit, wie der Stuhl normalerweise gehalten wird. Dabei ist eine Menge an Nerven, Muskeln und weitern Strukturen beteiligt, die den Stuhldrang signalisieren aber auch beherrschbar machen.
Ursachen der Inkontinenz
Häufigste Ursache für die Stuhlinkontinenz sind Probleme mit den Schliessmuskeln am Darmausgang. Gründe für entsprechende Defekte können beispielsweise bei Frauen in der Belastung unter der Geburt liegen. Auch postoperative Störungen nach bestimmten operativen Eingriffen sind möglich. Darüber hinaus kann eine Hypersensibilität des Dickdarms eine Ursache der Inkontinenz sein. Auslöser dafür können beispielsweise Infektionen mit entzündlicher Entwicklung sein. Kognitive Problematiken sind ebenfalls möglich. Hier wird Stuhlinkontinenz oftmals in Begleitung einer Demenz auftreten. Reizdarmsyndrom, Verstopfung mit abwechselnden Phasen von Durchfall dürfen ebenfalls als mögliche Ursachen von Stuhlinkontinenz infrage kommen.
Die Risikofaktoren
Die wichtigsten Risikofaktoren fassen wir unter folgenden Punkten zusammen. Die OR-Zahlen spiegeln dabei die Erhöhung des Risikos gegenüber dem Normalzustand. Das bedeutet, das beispielsweise Patienten mit Durchfall ein 53fach höheres Risiko haben, an Stuhlinkontinenz zu leiden.
Durchfall (unabhängig von Ätiologie): OR 53
Übergewicht: für jede Einheit Körpermasseindex (BMI) über 25: OR 1.1. So hat eine Person mit BMI 40 ein 16.5 mal erhöhtes Risiko.
Rauchen: OR 4.7
Cholezystektomie (Gallenblasenentfernung): OR 4.2
Harninkontinenz: OR 3.1
Hohes Alter
Reduzierte körperliche Aktivität
Der Verlauf
Junge Menschen verfügen in aller Regel über eine gute Kontinenz. Mit zunehmendem Alter kann sich dieser, als Normalzustand erachtete Status verändern. Das bedeutet, dass während des Lebens die Kraft und damit auch die Wirksamkeit der Schωliessmuskeln allmählich abnimmt. Das bedeutet aber nicht, dass praktisch jeder ältere Mensch inkontinent werden muss. Im Regelfall bleibt die Kontinenz, wenn auch verändert, über das Leben hinweg relativ stabil.
Allerdings gibt es Situationen, in denen die Kontinenz deutlich beeinträchtigt werden kann. Beispielsweise eine Verletzung im Verlauf eines operativen Eingriffs oder unter der Geburt mit schwerem Dammriss. Dann kann abrupt die Schwelle zwischen Kontinenz und Inkontinenz erreicht werden. Möglicherweise kann man sich von einem solchen Zustand erholen. Allerdings wirken hier die Traumata und die physiologisch im Alter abnehmende Kontinenz zusammen. Das bedeutet, es kann zu einer wirklichen Stuhlinkontinenz kommen. In manchen Verläufen zeigt sich auch, dass immer wieder kleinere Verletzungen zu Abwärtssprüngen in der Qualität der Kontinenz führen, so dass schlussendlich auch schon im früheren Seniorenalter die Schwelle zur Inkontinenz unterschritten wird.
Was bedeutet die Stuhlinkontinenz für die Betroffenen?
Um die Bedeutung einer Inkontinenz für Patienten erfassen zu können lohnt es sich, einmal einen konkreten Verlauf zu beobachten.
Im Fallbeispiel haben wir hier Herrn W. ausgewählt. Herr W. ist 74 Jahre alt und hat bereits einige gesundheitliche Problematiken durchlebt. In seiner Krankenakte findet sich ein geheilter Bauchspeicheldrüsenkrebs genauso wie ein wiederkehrendes Peniskarzinom und ein nicht mehr heilbarer Prostatakrebs. Seit etwa einem Jahr weist Herr W. eine fortschreitende Drang-Inkontinenz auf. Derzeit kommt es etwa an einem von drei Tagen zu entsprechenden Symptomatiken.
Das erste einschneidende Erlebnis war ein schnell zunehmender starker Stuhldrang mitten in der Stadt. Noch bevor er eine Toilette erreichen konnte, war es schon zu spät. In der öffentlichen Toilette bleibt ihm nur noch die Wahl, die Hose irgendwie reinigen zu wollen, natürlich mit wenig Erfolg. Schlussendlich hat Herr W. noch in den Toilettenräumen versucht, die verschmutzte Kleidung zu waschen und ist dann in der Nacht mit nasser Kleidung nach Hause gelaufen.
Diese Geschichte zeigt, wie schwierig und peinlich die Situation Betroffener sein kann und welche Hürden sich damit in der Teilnahme am normalen Leben aufbauen. Die Einschränkungen des Lebens für Patienten mit Stuhlinkontinenz sind für den normalen Bürger kaum nachvollziehbar. Die negativen Effekte auf eine annähernd normale Lebensführung sind vielseitig. Dazu gehören:
- Peinlichkeit
- unvorhersehbare Darmgewohnheiten, die zur ständigen Ausschau nach verfügbaren Toiletten zwingen.
- Hygiene/Geruch
- Angst vor körperlichen Aktivitäten
Dazu kommen assoziierte psychische Probleme wie
- Stress und Depression
- geringes Selbstwertgefühl
- Probleme mit dem Geschlechtsverkehr.
Es ist also eine ganze Reihe von Einschränkungen und kritischen Situationen, mit denen die Betroffenen konfrontiert sind. Oftmals bleiben die meisten der Betroffenen so oft es irgendwie geht einfach nur zu Hause und sind damit vom normalen gesellschaftlichen Leben quasi ausgeschlossen. Problematisch wird das auch für Patienten, die noch im Berufsleben stehen oder bislang gesellschaftlich hoch aktiv waren.
Was bedeutet die Stuhlinkontinenz für die Gesellschaft?
Aus der Sicht der Gesellschaft zeigen sich folgende Fakten als interessant. Betroffen von Stuhlinkontinenz sind gemäss Studien 7 – 15 Prozent der Frauen. Für die Frauen in stationärer Behandlung beträgt diese Zahl 18 – 33 Prozent und etwa 50 – 70 Prozent der Frauen in Alters- oder Pflegeheimen. Die Anzahl der betroffenen Männer dürfte etwas niedriger oder gleich wie bei den Frauen sein.
In der epidemiologischen Betrachtung fällt auf, dass die Patienten alles versuchen, das Problem zu verbergen oder zu verdrängen. Entsprechend wird die Problematik oftmals erst nach vielen Jahren des Leidens mit ärztlicher Beratung und Hilfe angegangen. Eine Stigmatisierung durch die Gesellschaft ist in allen Bevölkerungsschichten zu beobachten.
Manchmal gibt es auch andere Gründe, nicht über die Stuhlinkontinenz zu reden. Das sehen wir an einem weiteren Beispiel. Frau S. ist 72 Jahre alt und stellte sich für eine anorektale Manometrie vor. Bereits seit 20 Jahren litt sie unter einer passiven Inkontinenz (Grad III nach Parks). Sie hat zwei Kinder geboren, kann sich aber an Traumata unter der Geburt nicht erinnern. Frau S. Weist einen BMI von 28 auf, hat nie geraucht, keine Operationen im Magen-Darm-Trakt durchlaufen und weist auch keine Diarrhö auf.
In der anorektalen Manometrie zeigt sich, dass die Druckverhältnisse am After weit unter den Normalwerten liegen. Konkret zeigt sich hier eine radiale Asymmetrie (unterschiedliche Druckverhältnisse rund um den After). Während der Behandlung selbst zeigt sich Frau S. wenig gesprächsbereit und möchte eigentlich auch keine weiteren Untersuchungen veranlassen lassen. Im späteren Gespräch mit einer Praxisassistentin öffnet sich Frau S. und erzählt unter Tränen ihre Geschichte. Es zeigt sich, dass die Patientin im Alter von 17 Jahren von einem Familienmitglied vergewaltigt wurde. Ab diesem Vorfall begannen ihre Probleme langsam fortschreitend. Erst jetzt spricht Frau S. über ihre Problematik was zeigt, dass es auch andere Gründe geben kann, warum Patienten nicht über ihre Inkontinenz reden wollen. Frau S. entschied sich dann doch für weitere Untersuchungen, bei denen ein Defekt des Sphinkters festgestellt wurde. Eine operative Korrektur wurde abgelehnt, so dass mit konservativen Massnahmen weiterbehandelt wurde.
Wie kann geholfen werden?
Dabei stellt sich zunächst die Frage, wie jeder einzelne von uns den Betroffenen helfen kann. Wem auffällt, dass eine Person aus dem näheren Umfeld unter Stuhlinkontinenz leidet, sollte dieses Thema nach Möglichkeit ins Gespräch bringen. Dazu bedarf es vor allem einer Motivation der Betroffenen, sich zu öffnen und zu äussern. Es geht also um den Support und nicht um Ignoranz oder Stigmatisierung.
Für diejenige, die sich bereit für eine ärztliche Abklärung fühlen, wäre ein guter Hinweis bereits im Vorfeld ein Protokoll zu führen. Wesentliche Punkte in einem solchen Protokoll können sein:
- Auslöser der Inkontinenz: Drang? Passiv? Husten, Niesen oder Bewegung? Andere Auslöser?
- Wie war die Konsistenz des abgegangenen Stuhls?
- Wie war die Stuhlkonsistenz generell?
- Ernährung an diesem Tag
- eventuell Medikamente
Ein solches Protokoll kann für die weitere Anamnese wichtig sein, da sich Betroffene später oftmals nicht mehr an Details erinnern können. Wichtig generell ist, dass die Betroffenen sich in ihrer Problematik wahrgenommen und ernstgenommen aber keinesfalls stigmatisiert oder allein fühlen.
Was können Ärzte tun?
Grundsätzlich muss jeder Mediziner dieses Problem ernst nehmen. Die ersten Schritte der Therapie können vom Hausarzt selber eingeleitet werden. Je nach Verlauf muss dann eventuell die Zuweisung zu einem Spezialist erfolgen. Dieser ist ein Gastroenterologe oder ein Chirurg mit speziellem Interesse und Ausbildung für Beckenbodenstörungen.
Die gastroenterologische Diagnostik beginnt immer mit einer Anamnese. Dabei geht es darum, sowohl die Krankenvorgeschichte zu ermitteln und zu erkennen, in welchem Umfeld Stuhlinkontinenz stattfindet.
Danach folgen die klinische Untersuchung und die Prüfung der Funktionalität und der Struktur der Schliessmuskulatur und des Beckenbodens mit speziellen Untersuchungen. Dabei lassen sich oftmals auch andere Probleme wie beispielsweise Polypen, Entzündungen, Hämorrhoiden ausschliessen oder erkennen und die therapeutische Strategie erstellt.
Was folgt, ist die Therapie. Grundsätzlich unterscheiden wir dabei in drei Möglichkeiten.
- Konservativ
- Interventionell
- Chirurgisch
Der Video-Mitschnitt zum Vortrag „Stuhlinkontinenz – Lass uns darüber reden!“
Anhand der aufgeführten Fallbeispiele lassen sich die medizinischen Interventionen weiter erklären. Dazu folgen Sie bitte dem Video-Mitschnitt des Vortrages von Dr. med. I. Linas. Darüber hinaus werden zum Ende des Vortrages auch Antworten auf folgende Fragen gegeben:
- Künstlicher Darmausgang, ist das eine schwierige Operation?
- Wie beeinflusst das Rauchen die Inkontinenz? Kann eine Raucherentwöhnung helfen?
- Warum erhöht eine Gallenblasenentfernung das Risiko für Inkontinenz?
- Sind Windeln bei Stuhlinkontinenz genauso hilfreich wie bei Urininkontinenz? Gibt es Alternativen?
- Wie gefährlich ist die Behandlung von Hämorrhoiden mit Blick auf die Stuhlinkontinenz?
- Welche Medikamente sind bei Stuhlinkontinenz eher nicht ratsam?
- An wen soll ich mich wenden, wenn ich von Stuhlinkontinenz betroffen bin?
- Was genau ist mit Beckenbodenphysiotherapie gemeint und hilft das?