Die 5. Fachtagung der Helvetius Holding AG am 03. Dezember 2021 in Zermatt war ein echtes Highlight für alle medizinisch interessierten Laien und Fachkollegen sowie zuweisende Ärzte. Mit nach Hause nehmen konnten die Anwesenden ein breites Spektrum an Wissen, Erfahrungen und tiefen Einsichten. Ein Thema waren chronisch entzündliche Darmerkrankungen, zu denen sich Frau Dr. med. M. Neagu in einem fachspezifischen Vortag positionierte. Ein Video-Mitschnitt und der hier zur Verfügung stehende ausführliche Beitrag fassen den interessanten Vortrag zusammen.


 

Chronisch entzündliche Darmerkrankungen – ein Überblick

Anlässlich der 5. Fachtagung der Helvetius Holding AG hat Frau Dr. med. M. Neagu in einem Vortrag einen hervorragenden Überblick zu chronisch entzündlichen Darmerkrankungen geboten. Das Event fand im Kinosaal des Backstage Hotel by Heinz Julen statt. Neben der hier vorliegenden Zusammenfassung stellen wir einen Video-Mitschnitt des Vortrages von Dr. med. M. Neagu zur Verfügung.

Chronisch entzündliche Darmerkrankungen haben in den letzten Jahren in Europa und weltweit deutlich an Umfang zugenommen und zeigen, dass hier ein medizinischer Handlungsbedarf besteht, der ebenso viele Fragen wie Antworten aufwirft. Betroffen davon sind nicht nur Menschen im besten Lebensalter, sondern immer mehr auch Kinder und ältere Menschen. Das stellt eine neue Entwicklung dar und ist der Grund dafür, dass es wichtig ist über diese Krankheit umfassend zu informieren und medizinische Interventionsmöglichkeiten vorzustellen. Vorab sei schon gesagt, dass sich chronisch entzündliche Darmerkrankungen nicht nur als medizinisches Problem mit steigenden Fallzahlen präsentieren, sondern auch eng mit dem Lifestyle vor allem der westlichen Welt im Zusammenhang stehen.

Was sind chronisch entzündliche Darmerkrankungen?

Beginnen wir mit der Leidensgeschichte eines Patienten, den wir hier Herrn E. nennen wollen. Herr E. ist 26 Jahre alt. Mit vermehrt undifferenziert starken Bauchschmerzen und Bauchkrämpfen stellt er sich erstmalig bei seinem Hausarzt vor. Durchfall und ein anhaltendes Gefühl der Schwäche sind schon seit längerer Zeit zusätzliche Indizien dafür, dass es ihm wirklich nicht gut geht. Was Herr E. weiterhin als bedenklich empfindet, sind Hautveränderungen an den Oberschenkeln und am Hintern. Sitzen ist zumeist eher unangenehm. Nicht zu reden von einem ungewollten Gewichtsverlust von um die sechs Kilogramm über einen relativ kurzen Zeitraum hinweg. Mit diesen Symptomen und Beschwerlichkeiten begibt sich Herr E. in die Untersuchung bei seinem Hausarzt.

Schon die ersten körperlichen Untersuchungen zeigen, dass Herr E. besonders im Bauchraum deutlich schmerzempfindlich auch auf leichten Druck reagiert. Durch die Bauchdecke hindurch lassen sich Verhärtungen erspüren und auch die Hautveränderungen in den Achselhöhlen und am Gesäss sind nicht zu übersehen. Ausserdem fällt auf, dass bei Druck auf die Wirbelsäule Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule auftreten.

Was folgt ist eine Blutabnahme. Im Ergebnis der Laboruntersuchung fällt nicht nur die Blutarmut auf. Der Mangel an Eisen und Vitamin B 12 ist genauso auffällig wie hohe Entzündungswerte. Diese hohen Entzündungswerte manifestieren sich auch in der Stuhlprobe. Für die weitere Untersuchung folgt ein Ultraschall des Bauchraumes. Hier zeigt sich, dass mehrere Darmabschnitte deutliche Verdickungen aufweisen. Eine erweiterte Kernspintomographie macht weitere Komplikationen sichtbar. Eine Fistel zwischen zwei Darmanschnitten und zwei Fisteln Im Enddarmbereich werden erkannt. Um sich das Erscheinungsbild weiter klar zu machen wird eine Endoskopie durchgeführt. Hier zeigen sich schwere Entzündungen im Endbereich des Dünndarms. Der Dickdarm selbst ist in seiner ganzen Länge mehr oder weniger intensiv entzündet.

Jetzt besteht die Klarheit, dass es sich beim Patienten um eine schwere chronische Entzündung handelt, die sich bereits manifestiert hat. Was jetzt wichtig ist, wird eine gute Therapie sein. Dafür müssen zunächst andere Infektionen ausgeschlossen werden. Sind solche Infektionen nicht vorhanden, kann die Therapie sofort beginnen, anderenfalls müssen solche Infektionen mitbehandelt werden.

Nach Beginn der Therapie fühlt Herr E. schon sehr zeitig eine Verbesserung seines Allgemeinzustandes. Im klinischen Verlauf zeigt sich, dass Herr E. immer wieder epsiodenhafte entzündliche Schübe aufweist, aber mit der regelmässigen Infusionstherapie seit nunmehr acht Jahren recht gut und zumeist beschwerdefrei leben kann. Aber gerade die epsiodenhaften kleineren Rückfälle zeigen, dass es sich hier klar um eine chronische entzündliche Darmerkrankung handelt. Trotz diagnostizierten Morbus Crohn hat Herr E. wieder deutlich an Lebensqualität dazugewonnen und die beschwerdefreien Zeiten überwiegen die Episoden mit Krankheitswert. Er kann sein Leben grösstenteils  so gestalten, wie er will.

Was es bedeutet, Morbus Crohn oder eine Colitis ulcerosa zu haben

Klar sein muss, dass es sich hier um chronisch entzündliche Darmerkrankungen handelt. Solche Erkrankungen können mit oder ohne Begleiterkrankungen verlaufen. Betroffen sein können neben dem Darm auch Gelenke, Haut, Augen. Leider zeigt sich eine erhöhte Inzidenz chronisch entzündlicher Darmerkrankungen. Auffällig dabei ist, je reicher und entwickelter die Länder sind, desto mehr Betroffene gibt es in diesen Ländern. In der Schweiz kann davon ausgegangen werden, dass ein Mensch von 250 Menschen von dieser Erkrankung betroffen ist. Dabei sind Männer und Frauen zu gleichen Teilen betroffen. Auch die Verteilung zwischen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa stellt sich als jeweils hälftig dar. Wichtig zu wissen ist, das etwa 80 Prozent der Betroffenen gleichzeitig mit Begleiterkrankungen zu kämpfen haben. Dabei geht es um kardiovasculäre Erkrankungen genauso wie um rheumatologische Erscheinungen oder Geschwüre, die nicht direkt im Zusammenhang mit der chronisch entzündlichen Darmerkrankung stehen. Dazu kommen Patienten mit erhöhter Schmerzwahrnehmung und psychischen Störungen.

Was unterscheidet Morbus Crohn und Colitis ulcerosa voneinander?

Morbus Crohn kann den gesamten Magen-Darm-Trakt praktisch vom Mund bis zum After betreffen. Dabei können alle Wandschichten betroffen sein. Bei der Colitis ulcerosa beginnt die Erkrankung immer am Darmausgang und steigt kontinuierlich im Dickdarm auf.

Die Beschwerdebilder sind meistens von Durchfall dominiert. Bei Patienten mit Morbus Crohn treten viele krampfartige Durchfälle ohne blutigen Stuhl auf. Im Gegensatz dazu haben Colitis ulcerosa Patienten wegen der deutlichen Beteiligung des Darmausgangs immer auch Blut im Stuhl.

Morbus Crohn Patienten klagen häufig über Schmerzen im rechten Unterbauch, die Colitis ulcerosa Patienten verspüren die Schmerzen dominant im linken Bauchbereich. Typisch ist bei letzteren auch der krampfartig schmerzhafte Stuhldrang und -gang.

Morbus Crohn Betroffene können Fisteln am Darmausgang entwickeln, Colitis-Patienten bluten mehr aus dem Enddarm. Beiden Patientengruppen gemeinsam sind häufig ein Mangel an Eisen und Nährstoffen, was zu Mangelerscheinungen wie Müdigkeit und Abgeschlagenheit führt. Bei schwerem Verlauf können die Betroffenen aus beiden Erkrankungsformen auch über deutlichen ungewollten Gewichtsverlust berichten.

Welche Ursachen haben chronisch entzündliche Darmerkrankungen?

Leider wissen wir längst nicht alles über die Ursachen und Entstehungsbedingungen der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Was wir aber wissen ist, dass die Entstehung und Manifestation chronisch entzündlicher Darmerkrankungen ein multifaktorieller Prozess ist. Es spielen also viele Dinge eine Rolle, dazu gehört auch das Immunsystem. Massgeblich ist ein gestörtes Gleichgewicht zwischen Microbiom, Schleimhautzellen des Magen-Darm-Traktes und den Immunzellen am Darm. Durch dieses Ungleichgewicht kommt es schlussendlich zur Ausbildung der Krankheit. Eine Rolle spielen auch Genfaktoren, wobei nach derzeitigem Kenntnisstand nur etwa ein Viertel der Fälle in einem Zusammenhang mit genetischen Faktoren zu stehen scheint. Das bedeutet, dass chronisch entzündliche Darmerkrankungen nicht genetisch determiniert, sondern höchstens genetisch begünstigt sind. Wesentlich erscheint eine gestörte Darmbarriere, was dazu führt, dass Bestandteile der Darmflora in die Darmwand eindringen. Das wiederum führt zu einer Aktivierung des Immunsystems, wobei die aktivierten Immunzellen eine Entzündung auslösen und aufrechterhalten, was zum chronischen Krankheitsverlauf führt.

Wie wird eine chronisch entzündliche Darmerkrankung diagnostiziert?

Tatsächlich stellt sich die Diagnose einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung als so etwas wie ein medizinisches Puzzle dar. Aus den Wahrnehmungen und Angaben des Patienten, seinem Beschwerdebild, dem Ernährungsverhalten, eventueller Medikamenteneinnahme und möglichen Schmerzen gewinnen wir einen ersten Eindruck vom Krankheitsbild und Krankheitsverlauf. Bildgebende Verfahren, Stuhlproben und Blutuntersuchungen ergänzen das Bild. Dabei muss immer auch darauf geachtet, dass auch bei der Häufung typischer Symptome nicht sofort sicher auf eine chronisch entzündliche Darmerkrankung abgestellt werden kann. Ebenso kommt eine Vielzahl an anderen Infektionsmöglichkeiten in Betracht. Einen wesentlichen Befund kann die Endoskopie mit Gewebeentnahme erbringen. Alles in allem ist die Diagnose einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung ein umfassender Prozess, bei dem viele Faktoren zu berücksichtigen sind.

Wie stellt sich der Verlauf einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung dar?

Einen einzigartigen und damit generellen Krankheitsverlauf gibt es nicht. Praktisch bei jedem Patienten verläuft eine chronisch entzündliche Darmerkrankung anders. Nicht nur der Verlauf selbst, sondern auch die Intensität ist völlig unterschiedlich. Aus der Erfahrung der letzten Jahrzehnte heraus, konnte man jedoch vier Typen definieren. Differenziert wird dabei in

– einen abklingenden Verlauf

– seltener milder Beginn mit anschliessenden starken Schüben

– chronisch aktiver Verlauf und den

– intermittierenden Verlauf.

Auch wenn wir das wissen, lassen sich aus der Diagnose heraus und zum Diagnosezeitpunkt noch längst keine klaren Schlussfolgerungen auf den Verlauf ziehen.

Die Prognose

Klar ist, dass es sich hier um eine chronische Erkrankung handelt. Da wir aber weder den Grund noch die wirklichen Auslöser einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung kennen, können wir auslösende Wirkbedingungen nicht tatsächlich ausschliessen. Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass wir diese Erkrankung nicht wirklich heilen können. Was uns bleibt, ist die Therapie, mit der sich für die Patienten zumindest ein halbwegs normales und gesundes Leben führen lässt. Selbst dann, wenn wir bei einer Colitits ulcerosa den kompletten Dickdarm entfernen würden, wäre eine Heilung eher unwahrscheinlich, weil sich dennoch Entzündungen im OP-Gebiet fortsetzen könnten.

Wichtig ist zu ermitteln, welche Therapie in welcher Intensität individuell sinnvoll und hilfreich ist. Darauf legen wir unser Hauptaugenmerk. Gelernt haben wir, dass relativ junge Menschen mit stark manifestierten Erscheinungsformen von Beginn an eine sehr intensive Therapie benötigen um mit der Krankheit halbwegs vernünftig leben zu können. Eine solche Therapie kann jahrzehnte bis zeitlebens, zumindest aber über viele Jahre hinweg notwendig sein.

Die Therapiemöglichkeiten

Eingesetzt werden häufig bestimmte Steroide, also Cortison, unterschiedliche Tabletten und weitere Medikamente. Bei Colitis ulcerosa können auch bestimmte Probiotika (‚gute Darmbakterien‘) eingesetzt werden. Solche Probiotika können eine gute Wirkung auf den Erhalt der Remission haben. Omega 3 Fettsäuren oder Kurkuma als Möglichkeit aus dem Bereich der Komplementärmedizin wirken bei vielen Patienten entzündungslindernd. Selbst Meditation und Hypnose sind hilfreiche Therapieansätze, können aber allein kaum ausreichend sein. In vielen Fällen kann es hilfreich sein Medikamente einzusetzen, die auch bei anderen (funktionellen) Magen-Darm-Erkrankungen erfolgreich verabreicht werden, um Symptome zu lindern.

Biologika gegen verschiedene Entzündungsfaktoren stehen uns auch zur Verfügung. Die ersten Biologika gegen TNF sein seit 1998 im Einsatz, in den letzten Jahren  nimmt die Anzahl an Substanzen, die wir zur Therapie einsetzen können, zu.

So wie das Krankheitsbild immer sehr individuell ist, muss auch der Therapieansatz individuell auf den einzelnen Patienten bezogen entwickelt, probiert und optimiert werden. DAS Rezept gibt es nicht.

Ein Blick auf die Ernährung

Lange haben Mediziner gedacht, die Ernährung würde bei den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen keine ausschlaggebende Rolle spielen. Aus den Erfahrungen der Patienten heraus haben wir aber gelernt, dass bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen unterschiedliche Nahrungsmittel oder -bestandteile auch unterschiedlich gut vertragen werden. Inzwischen wissen wir auch, dass wir mit der Art und Weise der Ernährung einen guten oder weniger guten Einfluss auf das Entzündungsgeschehen im Darm nehmen können.

Schützend wirken vor allem wenig prozessierte, möglichst naturbelassene Nahrungsmittel. Besonders Lebensmittel mit einem hohen Gehalt an Omega 3 Fettsäuren wirken sich positiv aus. Grundsätzlich ist alles, was im Rahmen einer gesunden Ernährung gut ist, auch gut für die Betroffenen einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung (zumindest in den Remissionsphasen). In Studien wurde nachgewiesen, dass mediterrane Diäten, die Low-FODMAP-Diät oder die spezifische Kohlenhydrat-Diät die Symptome lindern und auch die Entzündungsproblematik im Darm zumindest teilweise beruhigen können.

Schädlich ist eine Ernährung, die sehr reich an tierischen Fetten und Proteinen ist. Hier wird in Fachkreisen diskutiert, ob solche Lebensmittel die entzündlichen Prozesse sogar befeuern. Dazu kommen natürlich auch viele andere Aspekte, die hier jedoch nicht behandelt werden sollen.

Ein Fazit

Chronisch entzündliche Darmerkrankungen sind multifaktoriell bedingt. Sehr häufig weisen die betroffenen Menschen nicht  nur Darmprobleme, sondern auch Erkrankungen der Gelenke, der Haut, der Augen und der Psyche auf. Die Auslöser für chronisch entzündliche Darmerkrankungen sind aus fachlicher Sicht noch nicht klar definiert. Daher sind auch die Therapien immer sehr individuell zu entwickeln. Eine Heilung ist derzeit nicht möglich. Eine Anpassung des Lebensstils, bestimmte, jeweils individuell einzustellende Medikamente und eine bewusst gesunde Ernährung helfen, ein annähernd normales und beschwerdefreies Leben führen zu können.

Den Vortrag von Frau Dr. med. M. Neagu können Sie auch im Video-Mitschnitt verfolgen.