Zum Thema Reizdarmsyndrom hielt Dr. med. I. Linas auf der 5. Fachtagung der Helvetius Holding AG am 03. Dezember 2021 einen zusammenfassenden Vortrag. Beleuchtet wurde die Tatsache, dass es sich beim Reizdarmsyndrom um eine funktionelle Darmerkrankung handelt, deren Diagnose sich aufgrund mangelnden Wissens über die Ursachen auf klinische Kriterien basiert. Handlungsoptionen in der Therapie wurden genauso aufgezeigt. Den Beitrag zum Vortrag lesen Sie hier. Darüber hinaus steht ein Video-Mitschnitt zur Verfügung.
Funktionelle Darmerkrankungen – Das Reizdarmsyndrom
Dr. med. I. Linas arbeitet als Gastroenterologe in der Gastroenterologischen Gruppenpraxis GGP in Bern.
In einem Vortrag anlässlich der 5. Fachtagung der Helvetius Holding AG beschäftigt sich Dr. med. I. Linas mit funktionellen Darmerkrankungen. Dabei wird die am häufigsten diagnostizierte funktionelle Darmerkrankung, das Reizdarmsyndrom, in den Fokus der wissenschaftlich fundierten Ausführungen gestellt.
Betroffen vom Reizdarmsyndrom sind etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung in der Schweiz. Eine solche Häufung der Fälle ist auch in Gesamteuropa zu beobachten. Zum Einstieg in seinen Vortrag werden funktionelle Darmerkrankungen als Ganzes beschrieben.
Was also sind funktionelle Darmerkrankungen?
Abstrakt umschrieben entsprechen funktionelle Darmerkrankungen, auch „Erkrankungen der Darm-Hirn-Achse genannt“, einem Spektrum von Störungen der Funktion des Magendarm-Traktes und der Kommunikation dessen mit dem Gehirn. Sie sind mit diffusen Beschwerden verbunden, unter anderem Bauchschmerzen, Blähungen, Durchfall aber auch Verstopfung. Typisch dabei ist, der chronische Verlauf. Die Symptome treten also nicht nur gelegentlich, vielleicht über ein paar Tage oder Wochen auf, sondern über Monate. Es braucht mindestens sechs Monate wiederkehrender Beschwerden, damit die Diagnose einer funktionellen Darmerkrankung überhaupt zutreffend sein kann.
Welche sind die funktionelle Dickdarmerkrankungen?
Die häufigste funktionelle Dickdarmerkrankung ist das Reizdarmsyndrom. In der gleichen Gruppe zählen dazu die funktionelle Verstopfung, der funktioneller Durchfall, die funktionelle Blähungen. Möglich ist auch eine unspezifische funktionelle Darmerkrankung, die quasi alle Erscheinungsformen in sich vereinigt.
Wie kommt es zum Reizdarmsyndrom?
Die Ausbildung eines Reizdarmsyndroms (wie auch der restlichen funktionellen Darmerkrankungen) ist offenbar ein sehr komplexer Mechanismus, den wir jedoch noch nicht komplett verstanden haben. Dennoch haben wir deutliche Fortschritte gemacht.
Wir wissen, dass es unterschiedliche Faktoren gibt, die zur Ausbildung eines Reizdarmsyndroms führen. Dazu gehört beispielsweise psychischer Stress, Veränderung der Bewegung des Dickdarms oder eine Durchlässigkeit seiner Oberfläche, eine Störung des Transports von Kochsalz-Anteilen (Elektrolyten) durch die Darmoberfläche sowie eine sogenannte Hypersensitivität, eine individuelle Überempfindlichkeit des Darms.
Die aktuelle Vermutung ist, dass bei Personen mit einer genetischen Neigung zum Reizdarmsyndrom, die in einer Umgebung mit Risikofaktoren leben, ein geeigneter Auslöser das vollständige Beschwerdebild des Reizdarmsyndroms verursachen kann. Auslöser können dann z.B. eine Magen-Darm-Infektion sein oder eine Divertikelentzündung, eine Bauchoperation oder eine Nahrungsmittelintoleranz. Selbst einzelne stressige Lebenssituationen können als Auslöser wirken.
Wie ist die Erscheinung eines Reizdarmsyndroms?
Das Hauptproblem für Patienten mit Reizdarmsyndrom sind die Schmerzen. Dabei geht es insbesondere um diffuse krampfartige Bauchschmerzen, die auch mit Veränderungen des Stuhlverhaltens einhergehen. Das bedeutet, der Patient hat einerseits Schmerzen, andererseits aber auch Durchfall oder Verstopfung oder auch beides abwechselnd. Möglicherweise hat er auch nichts davon aber dennoch Schmerzen im Zusammenhang mit dem Stuhlgang. Blähungen oder andere undifferenzierte Beschwerden können, aber müssen nicht auftreten.
Die vier Subtypen des Reizdarmsyndroms
Die Subtypen des Reizdarmsyndroms definieren sich danach, ob der Patient nebst den Schmerzen Durchfall oder Verstopfung oder beides hat. Insgesamt gibt es vier Subtypen.
- Reizdarm mit Durchfall (IBS-D)
- Reizdarm mit Verstopfung (IBS-C)
- Reizdarm mit Durchfall und Verstopfung im Wechsel (IBS-M)
- Reizdarm, der nicht zu den drei anderen Subtypen passt (IBS-U)
- Wie lässt sich ein Reizdarmsyndrom diagnostizieren?
Interessanterweise, findet sich in den Abklärungen für die Symptome zunächst keine klare, fassbare zugrundeliegende Störung. Es gibt keine Untersuchung und keine Labortests die uns bestätigen könnten, dass bei jemandem definitiv ein Reizdarmsyndrom hat oder eine andere funktionelle Darmkrankheit vorliegt. In der Folge kommt es häufig zu multiplen Arztbesuchen und entsprechend sehr hohe Gesundheitskosten.
Für die Diagnose des Reizdarmsyndroms muss also der Patient gewisse Kriterien erfüllen. Die Abklärungen, die durchgeführt werden, dienen dazu, mit grösstmöglicher Sicherheit aber ohne unnötig viel Aufwand (zeitlich und finanziell) andere Darmerkrankungen auszuschliessen.
Zuerst müssen wir beurteilen, ob der Patient sogenannte Alarmzeichen aufweist. Solche Alarmzeichen können sein:
- ungewollter Gewichtsverlust
- Blut im Stuhl
- familiäre Vorbelastungen in Richtung Darmkrebs
- Blutarmut
- Alter > 50 Jahre.
Patienten mit einer solchen Ausgangslage brauchen unbedingt eine Darmspiegelung. So können wir ausschliessen, dass es sich beim Beschwerdebild um Darmkrebs oder andere gefährliche Darmerkrankungen handelt.
Ansonsten brauchen wir für jeden Patienten einen einfachen Bluttest mit Blutbildbestimmung und Entzündungsparametern. Je nach Subtyp müssen weitere Tests durchführen, beispielsweise auf Parasiten, Antikörper-Test auf Zöliakie, eine Schilddrüsenuntersuchung, eine Bewertung der Gallenfunktion und so weiter. Auf diese Weise können wir Schritt für Schritt gewisse häufige Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen ausschliessen. Das Reizdarmsyndrom bleibt am Ende trotzdem eine positive Diagnose, basiert auf Kriterien und nicht eine Ausschlussdiagnose, die immer aufwendige Abklärung braucht.
Die Behandlung
Die Behandlung des Reizdarmsyndroms beginnt mit einer guten Kommunikation mit dem Patienten und mit Veränderungen des Lebensstils der Betroffenen. Angezeigt sind bestimmte Diäten, ausgesuchte Medikamente und in einigen Fällen auch Psychotherapie.
Die gute Kommunikation mit den Patienten ist wichtig, weil viele Betroffene, aber auch Ärzte, ein falsches Verständnis der Krankheit haben. Insbesondere deshalb, weil wir die Ursachen nicht so wirklich erfassen können. Tatsache ist, dass die Symptome der Patienten absolut reell, also nicht fiktiv, sind. Auch wenn das Reizdarmsyndrom in vielen Fällen mit der Psyche korreliert, geht es hier nicht um eine psychische Erkrankung. Wichtig ist, den Patienten zu erklären, dass ein Reizdarmsyndrom kein Komplikationsrisiko hat.
Von Anfang an muss mit dem Patienten auch besprochen werden, dass es keine magische oder einfache Lösung für das Problem gibt. Es gibt immer nur einzelne Therapieansätze für einzelne Gruppen von Patienten. Manchmal muss einiges ausprobiert werden, bevor man gemeinsam zu einer guten Lösung kommt. Der Weg zum Erfolg ist manchmal lang. Auch das muss dem Patienten kommuniziert werden, um zwischenzeitliche Enttäuschungen zu vermeiden.
Die Veränderungen im Lebensstil zielen vor allem auf mehr körperliche Aktivität ab. Ein gut ausgewogenes Training kann die Symptome des Reizdarmsyndroms positiv beeinflussen. Wichtig ist gleichwohl eine Stressreduktion, auch wenn das im Leben des Einzelnen oftmals gar nicht so einfach umzusetzen ist. Eine gute Schlafhygiene erscheint ebenfalls sehr sinnvoll, besonders wenn es darum geht, häufiges Aufwachen in der Nacht zu vermeiden.
Wenn die gute Kommunikation mit dem Patienten verlässlich funktioniert und die wichtigsten Veränderungen im Lebensstil funktionieren, dann kann eine Diätetische Umstellung versucht werden. Allerdings haben wir auch hier keine verlässlichen Daten für eine gute Nahrungsmittelauswahl. Einige Patienten profitieren auch von anderen Nahrungsmittelmodifikationen. So beispielsweise von der Einschränkung von Weizen in der Nahrung, was allerdings nicht bei allen Reizdarmpatienten gleichermassen gut funktioniert. Was sich anbietet ist eine Stuhlregulation durch den Einsatz von Flohsamenschalen. Damit lässt sich die Stuhlkonsistenz gut regulieren, so dass wir Verstopfung oder Durchfall gut beeinflussen können.
Bei der medikamentösen Behandlung gibt es je nach Subtyp unterschiedliche Stufen und unterschiedliche Ziele. Am Anfang steht immer die Stuhlregulation. Wird diese mit der Ergänzung der Nahrung um Nahrungsfasern nicht erreicht, können die einschlägigen Medikamente zur Stuhlregulation eingesetzt werden. Häufig kommen auch krampflösende Medikamente zum Einsatz, da diese sich auch positiv auf das Schmerzempfinden auswirken. Viele Patienten werden jedoch eine weiterführende medikamentöse Therapie brauchen. Dann können auch Antidepressiva eingesetzt werden, wenngleich der Patient unter keiner Depression leidet. Solche Medikamente wirken gut auf die Empfindlichkeit des Darms und können deshalb auch Überempfindlichkeiten gut beeinflussen. Als besonders interessant haben sich hier trizyklische Antidepressiva erwiesen, die die Intensität der Beschwerden deutlich mindern.
Auch wenn schon mehrmals betont wurde, dass die Reizdarm-Patienten nicht psychisch krank sind, empfehlen wir dennoch eine Psychotherapie. Wir verfügen über gute Daten dazu, dass bestimmte psychotherapeutische Interventionen sehr hilfreich sein können. Dazu zählen beispielsweise die Hypnose, die kognitive Verhaltenstherapie und ähnliche Ansätze. Dabei geht es schlussendlich immer um das Lindern der Beschwerden. Psychotherapeutische Interventionen wirken immer gut zusammen mit den anderen Behandlungsmöglichkeiten.
Ein Fallbeispiel
Eine ältere Dame von 81 Jahren klagt bereits seit 2013 über diffuse Bauchschmerzen und Brennen im Afterbereich sowie über dünneren Stuhlgang mehrmas (3-7 mal) pro Tag. Dieses Brennen machte sich vor allem vor dem Stuhlgang unangenehm bemerkbar. Es gab bis 2017 mehrere Versuche der Abklärung, die allerdings durchweg nie zu einem schlüssigen Ergebnis oder zu einer positiven Veränderung führten. Viele rein körperliche Erkrankungen konnten sogar merhmals ausgeschlossen werden. In der Anamnese wichtig erscheint, dass der Sohn der Dame vor zwei Jahren einen Verkehrsunfall erlitten hat und in der Folge gelähmt ist. Die Patientin selbst entwickelte daraufhin eine depressive Störung. Damit verschlechterten sich auch ihre ohnehin schon vorhandenen Beschwerden.
Gemeinsam mit dem Ehemann hat die Frau ihre Beschwerden dokumentiert. So war zu jeder Konsultation eine gute Übersicht darüber vorhanden, welche Beschwerden mit welchen Schmerzen aufgetreten sind. Zu erkennen war, dass praktisch täglich relevante Schmerzen aufgetreten sind. Auffällig waren auch die häufigen Stuhlgänge am Tag, die niemals unter drei waren, eher auch einmal bis zu sieben. Ihre Lebensqualität war deutlich eingeschränkt, weshalb sie mehrere Ärzte bereits gesehen hatte.
Nur aus der Vorgeschichte war klar, dass es sich hier um ein funktionales Problem handelt. Besprochen wurde, dass ein trizyklisches Antidepressivum eingesetzt wird. Schnell kommt es zu einer relativen Linderung der Schmerzen. Auch über längere Zeit hinweg konnte eine gute Schmerzkontrolle festgestellt werden.
An diesem Beispiel zeigt sich, dass es oftmals nicht einer Vielzahl an Untersuchungen braucht, um ein Reizdarmsyndrom gut beherrschbar zu machen. Entscheidend ist, die Situation dem Patienten korrekt zu erklären, die Diagnose basiert auf die klinischen Kriterien zu Stellen und Behandlungen einzusetzen.
Gehalten hat Dr. med. I. Linas diesen Vortrag am 03. Dezember 2021 im Backstage Hotel by Heinz Julen in Zermatt. Einen zusammenfassenden Video-Mitschnitt des Vortrages können Sie hier sehen.